ROLE Mag spricht in einem Podcast mit Mr. Allison Saphir. Der tief im Schweizer Burlesque verankerte Stage Manager und Performer erzählt darüber, was sich hinter den Vorhängen einer Show abspielt. Er reflektiert die Bedeutung von Männlichkeit im Kontext zur Bühne und spricht über Körperbilder. Ergänzend zum Thema Körper beleuchtet eine Recherche die Relevanz von Kleidung in der Definition von Männlichkeit. Zwei Expertinnen aus den Bereichen Geschichte sowie Trends und Identität zeigen in einem Artikel auf, wie sich die Bedeutung von Kleidung wandelt.
Burlesque und Boylesque
Der Begriff «Burlesque» stammt aus dem Theater des 16. Jahrhunderts und stand für Aufführungen nahe der Komödie und Karikatur, die sich durch skurrilen und vulgären Humor auszeichneten. «Burleske» leitet sich ab aus dem italienischen Wort «burla», was so viel wie Scherz bedeutet. Erst ab den 1920er-Jahren verbreitete sich die Form, die heute bekannt ist: Eine Bühnenshow, die Elemente der Erotik, Varieté und des Tanzes beinhaltet. Ihr Ziel ist es, das Publikum zu verzücken und zum Lachen zu bringen. In den Roaring Twenties stand bei den Shows jeweils eine Künstlerin im Mittelpunkt, die einen koketten Striptease auf der Bühne vollzog.
In den 60er-Jahren, der Zeit der sexuellen Revolution, geriet Burlesque beinahe vollständig in Vergessenheit – bis in die 1990er-Jahre. Dann haben in den USA Künstlerinnen aus der Szene wie Jennie Lee und Dixie Evans Burlesque wieder erfolgreich gemacht und zurück in die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit gerückt. Als New Burlesque hat der Burlesque von heute hohe Ansprüche an sich und möchte nicht nur der Unterhaltung mit humorvoll konzipierten Shows gerecht werden. Die Aufführungen und die Kleidung der Tänzer*innen zeichnen sich durch Eleganz aus, zum Beispiel in Form von Kostümelementen wie der beliebten Federboa. Dass bei Shows Hüllen fallen, ist häufig zentral. Die Künstler*innen entkleiden sich allerdings nie vollständig – mindestens Nippel und Intimbereich bleiben bedeckt.
Während lange hauptsächlich Frauen auf Burlesque-Shows tanzten, entwickelte Kenny Kerr in Las Vegas eine Show namens «This is Boy-Lesque» und rief damit Boylesque ins Leben. Bei diesem stehen männliche Burlesque-Künstler im Zentrum. Auf der Bühne spielen die Männer auch mal gerne mit den Geschlechterrollen: Ihre Kostüme entsprechen teils den femininen Standards, teils den maskulinen oder sind gar eine Kombination aus beiden. Wie im Burlesque unterscheiden sich die Darbietungen individuell nach den Fähigkeiten der Künstler*innen.
Boylesque als Befreiungsakt – Das Entblössen des Männerideals mit Mr. Allison Saphir
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Musiker in High-Heels und Kleidern, Verbotsversuche von Drag-Queen-Lesungen und Männerproteste in Röcken: Wie sich Männer kleiden, wird derzeit breit diskutiert. Die Debatte dreht sich um Rollenbilder, Macht und die Mode als ihre Ausdrucksform.
Der Sänger Harry Styles posierte selbstbewusst in einem grauen Kleid für die Titelseite der Vogue, Schauspieler Timothée Chalamet beschritt einen roten Teppich in Venedig elegant rückenfrei gekleidet und Lead-Sänger Bill Kaulitz fühlt sich in High-Heels pudelwohl. Für die Stars ist ihr genderfluide Kleidungsstil eine Frage der Identität. Während sie sich feminin kleiden, lehnen sie das klassische männliche Rollenbild ab. Bill Kaulitz sieht es als Aufgabe der Männer, sich vom typischen Männlichkeitsbild zu lösen und Harry Styles beschreibt den Ausbruch aus den Gendernormen als Freiheit. Timothée Chalamet spricht sogar von einer mutigen, neuen Welt. Aber ist sie das?
Zahlreiche ablehnende Reaktionen aus Politik und Gesellschaft auf alles, was nicht mit dem klassischen Männlichkeitsbild vereinbar ist, zeugen vom Gegenteil. Gegen Drag-Queen-Lesungen kämpfen insbesondere konservative Politiker*innen in den USA schon länger an. Mittlerweile ist die Diskussion auch in Europa angelangt: In Zürich fand im Mai 2023 eine Drag-Queen-Lesung für Kinder statt – unter Polizeischutz. Denn die Neonazi-Gruppe, die bereits im Vorjahr an der Lesung randaliert hatte, rief erneut zum Radau auf. Richtig in Fahrt geriet die rechte Politik, als eine Sekundarschule im Zürcher Stäfa einen Gendertag durchführen wollte. Amtierende SVP-Politiker wie Andreas Glarner und Roger Köppel hetzten öffentlich gegen die Schule, die sich wegen Störungsanzeichen um die Sicherheit sorgte und den Gendertag letzten Endes absagte.
Trotzdem sind lackierte Fingernägel, Perlenketten und Crop-Tops bei jüngeren Männern in der Gesellschaft angekommen. Katharina Tietze forscht zu solchen Entwicklungen rund um Mode und Identität. Sie leitet die Fachrichtung Trends and Identity an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK). Im Gespräch mit ROLE Mag sagt sie, dass sich der Trend weiterentwickeln wird, dass Männer feminine Stil-Elemente aufgreifen: «Wir sind eine individualisierte Gesellschaft und auch die Mode wird individueller.» Dass bald alle Männer Röcke tragen, bezweifelt sie jedoch.
Frauen kleiden sich heute im Alltag ganz selbstverständlich mit Hosen. Das war nicht immer so: Bis ins 19. Jahrhundert trugen Frauen nur lange Kleider, Hosen waren ausschliesslich für Männer vorgesehen. Die langen Kleider und Korsetts der Damen waren zwar schön anzusehen, aber unpraktisch und teils gesundheitsgefährdend. «Kleidung war ein Mittel, um die Frau zu unterdrücken», erklärt Katharina Tietze. Dem stimmt Samra Kljajic zu. Die Influencerin produziert Videos zu geschichtlichen Inhalten und arbeitet unter anderem mit Museen in Wien zusammen. Ihre über 350’000 Follower*innen klärt sie in den sozialen Medien insbesondere über die Entwicklung der Kleidung im Verlauf der Geschichte auf. Sie sagt, die Geschichte zeige, dass Frauen sich das Recht, Hosen zu tragen, erkämpft hätten. Anfangs waren Hosen nur bei sportlichen Aktivitäten wie dem Radfahren akzeptiert: «Das Fahrrad war das Instrument der Frauenbewegung», so Kljajic. Mit der Industrialisierung kam dann Ende des 19. Jahrhunderts die Hose als Teil der Arbeitskleidung auf. Trotzdem sind wegen des hohen Widerstands der bürgerlichen Seite Frauen in Hosen erst seit den 1960er-Jahren gesellschaftlich akzeptiert.
«Das Brechen von Kleidungsstereotypen ist immer auch eine politische Aussage», sagt Katharina Tietze von der ZHdK. Das haben auch die Männer erkannt, die im April 2023 in Zürich den Rethink Masculinity Day veranstalteten: Sie trugen beim Anlass alle Röcke. Während Männer in Röcken heute Aufmerksamkeit und teilweise Empörung erregen, war es für Landesoberhäupter einst ein Statussymbol, hohe Schuhe zu tragen.
Was heute vor allem bei Frauen populär ist, trugen früher die Könige. Die Geschichts-Influencerin Samra Kljajic verweist auf den Sonnenkönig Louis XIV. Dieser habe Schuhe mit roten Absätzen, welche die Nähe zum König symbolisierten, in seinem inneren Kreis verbreitet. Ausserdem liebte er Strümpfe, die seine Beine kräftig aussehen liessen. In der Zeit von Louis XIV, im 17. und 18. Jahrhundert, waren Strümpfe bei Frauen hingegen kein Thema, sie wurden sexualisiert und schickten sich nicht. Überhaupt keine Unterschiede zwischen den Geschlechtern gab es bei der Kinderkleidung: Sowohl Mädchen als auch Jungen trugen Kleidchen, die in Zeiten hoher Kindersterblichkeit leicht weitergereicht werden konnten. Erst ab dem sechsten Lebensjahr habe sich das geändert, sagt Kljajic: «Früher war Blau die Farbe für Mädchen – sie stand für das Heilige und Unbefleckte – und Rosa die Farbe für Jungs, da sie an Blut und Kampf erinnert.»
Bis ins 18. Jahrhundert wurde die Gesellschaft in erster Linie durch die Einteilung in Stände unterschieden. Die Kleidung gab Auskunft darüber, wer zum Adel und wer zum Pöbel gehörte. Das änderte sich 1789 mit der Französischen Revolution: Fortan spaltete nicht mehr die Einteilung in Stände die Gesellschaft sondern das Geschlecht. Männliche Mode musste nun schlicht sein. Ein Mann sollte sich nicht über seine Kleidung definieren, sondern über seine Haltung, Worte und Taten. Mit dem Bürgertum entstand ein hierarchisch strukturiertes Zwei-Geschlechter-Modell. Adlige Extravaganz und pompöse Kleidung wurde dem weiblichen, als schwächer geltenden Geschlecht, zugeschrieben.
Auf diese patriarchalischen Grundzüge führt Katharina Tietze auch die gesellschaftliche Ablehnung gegenüber Männern in femininer Kleidung zurück. Dass Männer freiwillig auf das Ideal und den Status des «starken Mannes» verzichten, um sich dem Weiblichen zu nähern, löse Unverständnis aus. Rollenbilder sind aber nicht in Stein gemeisselt. Sie können sich wandeln: «Grundsätzlich ist die Veränderung von Rollenbildern eine gesellschaftliche Entwicklung, die mit Machtfragen untrennbar zusammenhängt. Die Mode reagiert darauf: Sie spiegelt die Entwicklung nicht nur wider – sie treibt sie noch weiter», erklärt Tietze.
Besonders bunt kann man es auf der Bühne treiben, wo es Raum zum Ausprobieren gibt. «Kunst kann uns zeigen, wie Dinge sein könnten», sagt Katharina Tietze. Die bekanntesten Performances, in denen gerne mit Männlichkeit und Weiblichkeit gespielt wird, sind Drag-Shows. Der Ursprung des Begriffes «Drag» stammt übrigens aus dem 16. Jahrhundert, als die langen Kleider der männlichen Schauspieler, die Frauen spielten, über die Bühne «schleiften» («to drag» auf Englisch).
Gegenüber CNN sagte Joe E. Jeffreys, Drag-Historiker an der New York University, dass Drag eine theatralisch übertriebene Darstellung des Geschlechts sei. Drag hinterfrage soziale Normen und Geschlechternormen und fordere das Publikum auf, dasselbe zu tun – und das sei im Grundsatz politisch. Auch bei Burlesque oder Boylesque ist dies der Fall: So erzählt Burlesque-Tänzer Chris Oh, dass er durch seine Shows zum wandelnden politischen Statement wird – ob er möchte oder nicht.
Dass es innerhalb und ausserhalb der Politik viel Streit über Rollenbilder und Männerkleidung gibt, beobachtet auch Katharina Tietze. Für sie ist klar: «Wir müssen das als Gesellschaft ausfechten.» Es sei zwar ungemütlich, aber nur wenn man diese Debatten führe, könne sich etwas verändern. «Dann kann auch der Rock bei Männern selbstverständlich werden.»