GEWALT – IM LEBEN

In vier von fünf Fällen von körperlicher, psychischer oder sexueller Gewalt in der Schweiz befindet sich der Mann in der Täterrolle. Das zeigen die Zahlen des Bundesamts für Statistik. Auch weltweit betrachtet sind Frauen öfters von Gewalt betroffen als Männer. Gemäss dem Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann (EBG) wird jeder dritte Mord an Frauen durch deren jetzigen oder durch einen ehemaligen Partner verübt. Von häuslicher Gewalt ist gemäss dem EBG jede vierte Frau in Europa betroffen. Doch auch Männer können Opfer häuslicher Gewalt sein. Jeder vierte Mann erlebt in einer Paarbeziehung psychische Gewalt – beispielsweise in Form von Demütigung, Einschüchterung und Kontrolle.

Welche Möglichkeiten und Angebote gibt es für Männer, die Gewalt erfahren oder ihre Gewalt in den Griff bekommen wollen? Wie geht es diesen Männern dabei? ROLE Mag hat mit Fachstellen über diese Fragen gesprochen und erzählt die Geschichte von zwei Männern.

«MEINEN SOHN ZU SCHLAGEN, DEN ICH ÜBER ALLES LIEBE – DAS EMPFAND ICH ALS KRANK»

M.* sagt über sich, dass er eigentlich kein aggressiver Typ ist. Er ist im mittleren Alter, beruflich selbstständig, verheiratet und Vater von zwei Kindern. Er habe eine glückliche Kindheit gehabt und weder in seiner Jugend noch gegenüber seiner Frau, seiner Tochter oder seinen Freunden ein aggressives Verhalten an den Tag gelegt – seine Gewaltausbrüche richten sich einzig gegen seinen Sohn.

«An einem Abend im Sommer 2022 habe ich meinen Sohn angeschrien und sehr grob gepackt. Ich habe ihn in sein Zimmer ‹gestellt› und eingeschlossen. Wir gerieten aneinander und ich habe völlig den Verstand verloren. Als ich mich wieder beruhigte, merkte ich, dass das so nicht weitergehen kann. Ich war völlig ausser Kontrolle und hatte Angst, dass ich das nächste Mal noch gröber werde. Ich habe mich extrem geschämt. Noch heute.»

Das erste Mal gewalttätig wird M. während der Covid-19-Pandemie. Er leidet unter den von den Behörden auferlegten Massnahmen, die weniger Arbeitsaufträge für M. zur Folge haben. M. fühlt sich zunehmend gestresst und unter Druck. Diese Gefühle lässt er zunehmend an seinem Sohn aus.

«Wenn ich gestresst nach Hause kam und mein Sohn etwas von mir wollte, habe ich das nicht geschnallt. Und dann sind wir immer öfter und heftiger aneinandergeraten.»

Die Situation von M. ist keine Ausnahmeerscheinung. Die Corona-Pandemie verstärkt bereits bestehende Probleme wie beispielsweise ein geringes Familieneinkommen, Arbeitslosigkeit oder Suchtprobleme. Diese Probleme wiederum begünstigen häusliche Gewalt. Die neuen Umstände wie Homeoffice und Homeschooling führen während der Pandemie in vielen Schweizer Haushalten zu Konflikten. 

Zahlen zu häuslicher Gewalt – Täter*innen
Im Jahr 2022 registrierte die Polizei 10’737 Personen, die als Täter*innen häusliche Gewalt ausübten. 71 Prozent davon sind Männer, 26 Prozent sind Frauen und 3 Prozent sind Minderjährige. Doch nicht jeder Fall von häuslicher Gewalt wird angezeigt und ist in den Statistiken des Bundesamtes für Statistik aufgeführt. Das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann (EBG) schätzt die Dunkelziffer hoch ein. Bevölkerungsstudien zu häuslicher Gewalt des EBG besagen, dass in Europa jede vierte Frau körperliche und/oder sexuelle Gewalt in einer Partnerschaft erfährt und jedes sechste Kind von der Gewalt zwischen den Eltern mitbetroffen ist.

Im März 2021 teilt der Bundesrat mit, dass sich die von der Polizei registrierte häusliche Gewalt seit Beginn der Pandemie nicht signifikant erhöht habe. Er schreibt in der Mitteilung aber, dass kantonale Opferhilfestellen und Schutzunterkünfte eine Zunahme an Familienkonflikten und leichteren Formen häuslicher Gewalt melden würden.

Auch zwischen M. und seinem Sohn kommt es zu immer mehr und heftigeren Auseinandersetzungen. Doch M. wird sich zunehmend bewusst, dass sein Handeln nicht richtig ist.

«Meinen Sohn zu schlagen, den ich über alles liebe – das empfand ich als krank. Meine Tochter und meine Frau mussten das miterleben. Das war schlimm.»

Die Frau von M. interveniert an besagtem Abend im Sommer 2022, als M. seinen Sohn grob gepackt und angeschrien hat. M. solle an der Situation unbedingt etwas ändern, auch sie habe Angst vor seinen Ausrastern. Angst, weil die Gewalt am gemeinsamen Sohn immer heftiger wird und M. dabei immer gröber zulangt. Dass sich etwas ändern muss, wird auch M. klar. Er fühlt sich verpflichtet, etwas gegen seine gewalttätigen Reaktionen zu unternehmen, aber er hadert.

«Meine eigene Vorstellung besteht daraus, dass ein Mann seine Probleme löst. Selbst löst. So denke zumindest ich. Wenn es ein Problem gibt, dann gebe ich nicht auf, bis ich eine Lösung gefunden habe. Deswegen war es komisch, Hilfe zu holen. Mir war aber klar, dass ich es nicht alleine schaffe.»

M. beschliesst, sich an eine Beratungsstelle für gewalttätige Menschen zu wenden. Im Internet findet er die Fachstelle Gewalt Bern und vereinbart einen Termin. Bald darauf sitzt er Diego Andenmatten, einem Gewaltberater der Fachstelle, gegenüber und kann über die Situation zu Hause sprechen. Andenmatten hat eine dreijährige Ausbildung zum Gewaltberater gemacht. Das Ziel des Sozialarbeiters ist es, Menschen in den Einzelberatungen so zu helfen, dass sie ihre gewalttätige Seite ablegen können.

Über die Fachstelle Gewalt Bern
Im Jahr 2022 beriet die Fachstelle Gewalt Bern 108 Personen, davon 68 Männer, 22 Frauen und 18 Jugendliche. Die Fachstelle ist Teil eines Vereins. Er wurde 2002 gegründet und ist politisch und konfessionell neutral. Die Fachstelle finanziert sich durch Mitgliederbeiträge des Vereins, Spenden und Beratungsleistungen sowie durch Vorträge und Kurse.

M. ist nervös vor dem ersten Termin mit dem Gewaltberater. Die Nächte davor kann er kaum schlafen. Als er bei der Beratungsstelle in Bern ankommt, ist er aber erleichtert. Das Büro befindet sich in einem Mehrfamilienhaus – man sieht dem Ort nicht an, dass die Fachstelle dort Gewaltberatungen durchführt. Dieser erste positive Eindruck täuscht M. nicht – die Beratung läuft gut, er fühlt sich verstanden. Das stimmt ihn zuversichtlich, dass er die Gewalt in den Griff bekommen kann.

«Die meisten Menschen kommen freiwillig zur Gewaltberatung, das hilft beim Einstieg», sagt der Gewaltberater Diego Andenmatten. In den seltensten Fällen seien sie behördlich registriert. Dass die Mehrheit der Personen aus eigener Motivation in die Beratung komme, erklärt er so: «Diese Menschen schämen sich und können das auch so benennen. Deshalb melden sie sich.»

Fachstelle Gewalt Bern, Diego Andenmatten an seinem Bürotisch
Die Beratung vergleicht Gewaltberater Diego Andenmatten mit den Arbeiten an einem Motorraum: «Wir schauen, an welchen Schrauben wir drehen müssen, damit das ganze System besser läuft», sagt er. (Bild: Andrea von Däniken)

Ihm sitze nicht der «typische Täter» gegenüber, den man aus Büchern oder aus dem Fernsehen kenne, sagt Andenmatten. «Es sind Menschen, die im Affekt nicht wissen, wie reagieren. Dann kommt es zu einem ‹Chlapf› oder es wird sonst eine Grenze überschritten.»

Auf die erste Beratung von M. folgen viele weitere. Sie ist der Anfang eines langen Prozesses. Ein Prozess, in dem M. sein Leben als Mensch, Ehemann und Vater grundsätzlich hinterfragt.

«Es war ein Auf und Ab. Obwohl ich meinen Sohn nicht mehr packte oder ohrfeigte, hatte ich viel Arbeit vor mir. Ich musste meine eigenen Vorstellungen hinterfragen: Was macht ein guter Vater und Ehemann aus? Muss ich immer eine Lösung bereit haben und hart und konsequent sein?»

Sich in dieser Weise mit sich selbst auseinanderzusetzen, ist ein grosser Bestandteil der Beratung. «Vieles davon ist Gesprächstherapie», sagt Andenmatten. Er vergleicht die Beratung mit den Arbeiten an einem Motorraum: «Dort schauen wir, an welchen Schrauben wir drehen müssen, damit das ganze System besser läuft.»

M. erzählt dem Gewaltberater aus seinem Leben und seinen Gedanken dazu. Das macht M. oft nervös, weil er dabei viel von sich preisgeben muss. Gemeinsam ordnen sie seine Gedanken in Gefühle, Fakten und eigene Bewertungen sowie in sogenannte «Horror Stories» ein. M. lernt, wie seine Gewaltausbrüche zustande kommen und wie er diese vermeiden kann.

Beratungszimmer in der Fachstelle Gewalt Bern: roter Sessel und schwarzes Sofa. In der Mitte des Raumes ein grosses Fenster.
Die grösste Herausforderung sei für M. nach wie vor, allen gerecht zu werden. Er geht weiterhin regelmässig in die Beratung. (Bild: Andrea von Däniken)

Heute sitzt M. alle sechs Wochen seinem Gewaltberater in dessen Büro gegenüber. Nicht, weil er seinem Sohn gegenüber noch Gewalt ausübt, sondern weil er gemerkt hat, dass ihm das Reden im geschützten Raum hilft. Hier kann er über seine Rolle in der Familie nachdenken. Er kann herkommen, um Situationen zu besprechen, in denen er unsicher ist.

«Ich hätte schon früher Hilfe holen sollen. Das hätte mir und meiner Familie einiges erspart. Ich bin froh, dass ich den Schritt gemacht habe.»

Die Möglichkeit, in der Gewaltberatung über seine Unsicherheiten zu sprechen, hat er in seinem Umfeld nicht. M. hätte früher nie gedacht, dass er eines Tages eine Therapie machen wird. Er habe Personen, die eine in Anspruch nehmen, belächelt. Jetzt sei er froh, dass er sich zu diesem Schritt entschieden hat.

Er sei seiner Frau und seinen Kindern sehr dankbar, dass sie zu ihm gehalten haben. Es sei ihm wichtig, seiner Rolle in der Familie gerecht zu werden, und er tue alles dafür, um so viel Zeit wie möglich mit seiner Familie zu verbringen. Aus Sicht der Gewaltberatung stellt diese Entwicklung ein erfolgreicher Veränderungsprozess hin zu einem gewaltfreien Verhalten dar.

Gewaltprävention im Kanton Bern und in der Schweiz
Im Kanton Bern bestehe eine grosse Angebotslücke in der Gewaltprävention, sagt Basil Glanzmann, der Geschäftsführer der Fachstelle Gewalt Bern. Der Kanton erreiche mit seinem Angebot der Gewaltberatung lediglich ein Prozent aller gewaltausübenden Personen. Das sei unbefriedigend, weil eine grosse Dringlichkeit bestehe, so Basil Glanzmann.

Einerseits verursache Gewalt viel Leid, andererseits seien die Folgekosten für den Staat und die Kantone hoch: Gemäss dem vom EBG im Jahr 2013 herausgegebenen Forschungsbericht gibt die Schweiz pro Jahr mindestens 188 Millionen Franken für die Folgen häuslicher Gewalt aus – davon fallen 12,4 Prozent respektive 23,5 Millionen Franken im Kanton Bern an.

Um das Angebot der Gewaltprävention zu verbessern, sollten Anlaufstellen und Angebote ausgebaut werden, sagt Basil Glanzmann. Dafür müsste die Politik finanzielle Unterstützung sprechen. In der Gesellschaft sollte das Reden über Gewalt kein Tabu mehr sein – nur so könne eine Sensibilisierung stattfinden.

Die Fachstelle hat einen Finanzierungsantrag beim Kanton Bern eingereicht, um diese Versorgungslücke zu schliessen und im ganzen Kanton niederschwellige Gewaltberatungsstellen anzubieten.

Der Kanton Bern bietet mit der Berner Interventionsstelle gegen häusliche Gewalt auch selbst Gewaltberatungen und Lernprogramme gegen Gewalt an. Diese würden eine breite Zielgruppe ansprechen, sagt Lis Füglister von der Interventionsstelle. Deshalb subventioniere der Kanton die Fachstelle Gewalt Bern nicht zusätzlich. Der Kanton Bern investiere seit Jahren in Gewaltberatungen, aber es gebe Verbesserungspotenzial. Die Gewaltpräventionsangebote weiterzuentwickeln sei deshalb ein Schwerpunkt der Berner Interventionsstelle gegen häusliche Gewalt.

Aktuell ist ein kantonaler parlamentarischer Vorstoss hängig, der verlangt, dass die Finanzierung von nichtstaatlichen Gewaltberatungsstellen geprüft wird. Eine Antwort oder ein politischer Entscheid stehen noch aus.

«ICH WURDE BELEIDIGT, ERNIEDRIGT UND GEDEMÜTIGT»

E.* litt jahrelang unter der psychischen Gewalt seiner heutigen Ex-Frau. Stundenlange Verhöre, in denen es zu Geschrei, Beleidigungen und Demütigungen kam, prägten den Beziehungsalltag. Es sei die schlimmste Zeit seines Lebens gewesen, schreibt E.

Er sei seiner Frau und seinen Kindern sehr dankbar, dass sie zu ihm gehalten haben. Es sei ihm wichtig, seiner Rolle in der Familie gerecht zu werden, und er tue alles dafür, um so viel Zeit wie möglich mit seiner Familie zu verbringen. Aus Sicht der Gewaltberatung stellt diese Entwicklung ein erfolgreicher Veränderungsprozess hin zu einem gewaltfreien Verhalten dar.

«Es war etwa zwei Uhr morgens nach sechs Stunden Autofahrt, da tickte sie plötzlich komplett aus. Wie eine Wahnsinnige schrie sie im Auto rum und liess sich nicht mehr beruhigen. Der Kleine wurde wach und völlig unvermittelt schlug sie mir mit der Faust auf die rechte Schulter. Ich bekam einen solchen Schreck, dass ich bei 120 km/h die Spur wechselte – zum Glück ohne einen Unfall zu verursachen.»

Die Geschichte von E. beginnt im Jahr 2013, als er an einer Tankstelle eine Frau anspricht. Die beiden lernen sich kennen und lieben, ziehen nach einem Jahr Beziehung in eine gemeinsame Wohnung. Doch bereits in dieser Phase lernt E. seine Partnerin von einer anderen Seite kennen: Wutanfälle und Erniedrigungen häufen sich, hinzukommen ständige Kontrollen und Eifersucht.

Mit dieser Situation ist E. nicht allein. In gut acht von zehn Fällen zeichnet sich häusliche Gewalt in der Schweiz durch Tätlichkeiten, Drohungen, Beschimpfungen oder einfache Körperverletzung aus.

Zahlen zu häuslicher Gewalt – Opfer

Gemäss dem Bundesamt für Statistik registrierte die Polizei im Jahr 2022 schweizweit rund 11’400 geschädigte Personen aufgrund häuslicher Gewalt. Im Vergleich zum Vorjahr ist diese Zahl leicht angestiegen. Gut jede zweite geschädigte Person ist weiblich, jede vierte männlich und jede siebte noch minderjährig. Nicht selten führen die Gewalttaten auch zum Tod. In der Schweiz kommt es im häuslichen Bereich jede Woche zu einem Tötungsversuch, wobei im Schnitt alle zwei Woche eine Person in Folge häuslicher Gewalt stirbt. Das sind durchschnittlich 25 Personen pro Jahr, davon 16 Frauen und vier Kinder.

Trotz der schwierigen Umstände passt sich E. an die Situation zu Hause an und schränkt aufgrund der Eifersucht seiner Frau den Kontakt zu anderen Frauen massiv ein. Dennoch wird sie zunehmend eifersüchtig. Hinzu kommt ihr Wunsch, so schnell wie möglich schwanger zu werden. E. fühlt sich unter Druck gesetzt. 

«Ich wurde beleidigt, erniedrigt und gedemütigt – immer und immer wieder. Einen Monat nach den ersten vergeblichen Versuchen, ein Kind zu zeugen, wurde der Frauenarzt von meiner Frau derart genötigt, dass eine Insemination (Samenübertragung) durchgeführt werden musste. Der Druck, der auf mir lastete und den sie aufbaute stieg ins Unermessliche. Ich wurde beinahe impotent! Es war die Hölle auf Erden.»

Kurze Zeit später wird seine Frau schwanger. Doch obschon die Geburt des gemeinsamen Sohnes grosse Glücksgefühle auslöst, verändert die neue Familiensituation die Beziehung zwischen ihm und seiner Frau nicht. Im Gegenteil: Die Aggressionen und Beleidigungen seiner Frau nehmen zu. Der Alltag von E. richtet sich zunehmend nach ihrem: 

05.15 Uhr: Aufstehen, ohne Frühstück zur Arbeit fahren (macht zu viel Lärm)

06.00 Uhr: Arbeitsbeginn

11.30 Uhr: Mittagspause mit telefonischer Kontrolle, ob ich nicht mit Frauen spreche

12.30 Uhr: 20 Minuten Mittagsschlaf im Auto

13:00 Uhr: Arbeitsbeginn

16.00 Uhr: Arbeitsschluss

16.30 Uhr: Ankunft zu Hause, Frau zu ihrem Arbeitsort fahren

18.00 Uhr: Erneute Ankunft zu Hause, Abendessen mit meinem Sohn, drinnen spielen, da Mütter draussen auf dem Spielplatz sind

20.15 Uhr: Mit Sohn die Frau bei der Arbeit abholen und zu ihrem zweiten Arbeitsort bringen

21.00 Uhr: Den Sohn allein ins Bett bringen und danach die Frau von der Arbeit abholen

21.30 Uhr: Mit meiner Frau streiten über ihre Eifersucht

23.00 bis 24.00 Uhr: Nervös und ängstlich einschlafen

Die Kontroll- und Wutausbrüche seiner Frau richten sich vermehrt gegen das zweieinhalbjährige Kind: Sie schlägt zu, wenn es nicht mit Besteck isst oder nicht sofort einschläft. Als sie E. zwingt, es ihr gleichzutun und Gewalt gegen den eigenen Sohn anzuwenden, wird ihm alles zu viel. 

«Eines Tages im Mai 2017 bin ich fast zusammengebrochen. Ich habe angefangen, auf der Arbeit mit der Organisation ‹Tel143 – Dargebotene Hand› zu mailen. Gleichzeitig habe ich meine Situation einer Arbeitskollegin geschildert, die mich dann auf das Männerhaus ‹Zwüschehalt› aufmerksam machte. Ab diesem Zeitpunkt telefonierte ich regelmässig mit dem Firmentelefon, da meine Frau mein Telefon und mein Mail-Postfach überwachte.»

So wie E. gehe es den meisten Personen, die von häuslicher Gewalt betroffen seien, sagt Tania Glanzmann, die Leiterin des Väter- und Männerhauses «Zwüschehalt» in Bern: «Es braucht meist viel, bis der Leidensdruck eines Mannes so gross ist, dass er sich bei uns meldet.» Oft seien Scham- oder Schuldgefühle im Spiel.

Über Zwüschehalt 

Zwüschehalt ist ein privater Verein, der Männer- und Väterhäuser betreibt, in dem von psychischer oder physischer häuslicher Gewalt betroffene Männer Schutz, Ruhe und Unterstützung finden. Die Anlaufstelle hilft den Männern und ihren Kindern, eine Perspektive in schwierigen Situationen zu finden und berät sie im Umgang mit den Behörden. Zwüschehalt betreibt Männer- und Väterhäuser in Bern, Luzern und Zürich, wobei an allen Standorten Betroffene aus der ganzen Schweiz aufgenommen und beraten werden. Der Verein finanziert sich grösstenteils durch Spenden, Mitgliederbeiträge sowie Zahlungen der Betroffenen. Gelegentlich unterstützen die Opferhilfe sowie Sozialdienste den Verein finanziell. 

Auch für E. ist es anfänglich schwierig, Hilfe zu suchen und anzunehmen. Als die Situation zu Hause aber nicht mehr auszuhalten ist, beschliesst er, mit seinem Sohn im Männerhaus «Zwüschehalt» unterzukommen. 

«Meine Frau hat die Polizei eingeschaltet. Diese hat uns gesucht und uns dann im Zwüschehalt gefunden. Ich habe in der Nacht mit der Polizei telefoniert. Sie meinte, ich solle am nächsten Tag sofort eine Anzeige wegen Körperverletzung, Beleidigung, Bedrohung und Nötigung erstatten. Beide Parteien sollten auch sofort Anwälte einschalten, um das Recht des Kindes zu schützen. Das habe ich am nächsten Tag sofort gemacht.»

Während vier Wochen bleiben E. und sein Sohn im Männerhaus. In dieser Zeit lernt der Junge zu kriechen und zu gehen, was seine Frau bis anhin verhindert habe, schreibt E. 

Eines der fünf Schlafzimmer im Männerhaus in Bern. Die Adresse ist nicht publik. (Bild: Tania Glanzmann)

Bald daraufhin fleht seine Frau E. an, zurückzukommen und bittet ihn um Verzeihung. Er gibt ihr eine zweite Chance und zieht mit seinem Sohn wieder nach Hause. In den eigenen vier Wänden zeigt sich die Eifersucht der Frau jedoch schnell wieder. Hinzu kommt das Misstrauen, dass E. wieder ins Männerhaus gehen könnte – was er auch tut. 

Erneut finden er und sein Sohn für einen Monat Obhut im Zwüschehalt. Die Situation zu Hause war für die beiden untragbar geworden. Doch E. will seine Ehe noch nicht ganz aufgeben. Auf den zweiten Aufenthalt hin folgen Versuche, die Ehe mit Paar- und Psychotherapien zu retten. Vergeblich. Zu Hause wird das Verhalten der Frau noch schlimmer. Der Alltag von E. ist derselbe wie zuvor. 

«Ich rief immer wieder im Männerhaus an und wir planten eine letzte Flucht. Mit meinem Sohn habe ich das dafür benötigte Material gekauft – Windeln und Gebrauchsgegenstände – und diese Dinge dann ins Männerhaus gebracht. Mir war klar, dass ich nur den richtigen Zeitpunkt abwarten musste, um erneut zu gehen – diesmal für immer.»

Wieder zurück im Männerhaus schaut E. zu seinem Sohn, bereitet sich auf den Gerichtstermin vor und ist mit den Behörden in Kontakt. Er organisiert eine Tagesmutter, sucht und findet eine Wohnung für sich und das Kind. Zwüschehalt begleitet ihn durch diese Zeit und unterstützt ihn dabei, den Antrag der Frau, den Sohn zurückzubekommen, abzuwenden. 

Am Esstisch können sich Betroffene untereinander austauschen. (Bild: Tania Glanzmann)

Die Erfahrung von E. liegt mehrere Jahre zurück. Heute lebt er in einer glücklichen Beziehung mit einer anderen Frau, führt ein weitgehend normales Leben. Sein Sohn lebt wieder bei seiner Ex-Frau. Diese habe die Behörden derart täuschen können, dass er am Schluss als Psychopath dastand, schreibt E. Zu akzeptieren, dass sein Sohn nun hauptsächlich wieder bei der Person lebt, die ihn misshandelt und geschlagen hat, fällt E. nach wie vor schwer. 

Zur Beratung ins Männerhaus geht E. dann, wenn ihn unvorbereitet eine schlimme Erinnerung aus der Vergangenheit einholt. Er sei froh, dass es das Angebot der Anlaufstelle gebe. Ohne dessen Hilfe hätte er sich nicht aus seiner Situation befreien können. 

Das Büro im Zwüschehalt. Hier finden Beratungsgespräche mit Betroffenen statt. (Bild: Tania Glanzmann)

Tania Glanzmann vom Zwüschehalt wünscht sich, dass sich mehr Männer frühzeitig eingestehen können, dass sie Hilfe brauchen. Sie hofft, dass die Behörden sowie medizinischen Institute in der Schweiz sensibilisierter werden im Umgang mit Männern in solchen Notsituationen und dass das Thema in der Gesellschaft mehr diskutiert wird. Denn: «Männer können sowohl Täter als auch Opfer häuslicher Gewalt sein.» 

*Die Aussagen von M. und E. entstammen einem anonymisierten Fragebogen, den beide schriftlich beantwortet haben. Da die Namen von M. und E. der Redaktion nicht bekannt sind, wurden ihnen die Initialen willkürlich zugeteilt.

Die Kontaktaufnahme mit M. erfolgte durch die «Fachstelle Gewalt Bern». Zu seinen Aussagen schreibt sein Betreuer Diego Andenmatten folgendes: «Ich habe das Interview mit ihm zusammen gemacht und direkt aufgeschrieben. Ich versuchte, das Gesagte so nahe wie möglich am Wortlaut des Klienten widerzugeben. Ich hoffe, es ist alles verständlich, denn es war manchmal nicht leicht für ihn, auf die Fragen eine konkrete und direkte Antwort zu geben.»

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E. erhielt den Fragebogen durch das Männer- und Väterhaus «Zwüschehalt» in Bern. Die Leiterin der Anlaufstelle, Tania Glanzmann, schreibt zu den Aussagen von E. folgendes: «Wir nehmen sie entgegen als seine Wahrnehmung und seine Wahrheit und wir werten sie nicht. Das entspricht der systemischen Sicht und der Erkenntnis, dass jeder durch seine eigene Brille schaut. Die Schilderungen entsprechen jedoch dem, was er auch im Kontakt mit uns erzählt hat, respektive was unseren Beobachtungen mit Blick auf das betroffene Kind ergeben haben.»

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